Die Handschrift

Zwei Frauen beugen sich über die aufgeschlagene Wigalois-Handschrift. Zu sehen ist die Illustration auf den Blättern 81v und 82r: Wigalois legt im Garten von Roimunt Rüstung und Waffen ab.

Bl. 81v-82r: Wigalois legt im Garten von Roimunt Rüstung und Waffen ab

Die Handschrift entstand um 1420 im elsässischen Hagenau, einem der Zentren spätmittelalterlicher Buchherstellung am Oberrhein. Hier produzierten Schreiber und Illustratoren repräsentative „Klassiker-Ausgaben“ der deutschen Literatur auf Vorrat für einen Käufermarkt. Daraus entwickelte sich die Werkstatt des Diebold Lauber als großes kommerzielles Unternehmen, das zwischen 1427 und 1471 nachweisbar ist und erst zu Beginn der Buchdruck-Ära einging. Der Erfolg der Hagenauer Werkstatt beruhte darauf, dass sie leicht wiedererkennbare „Markenartikel“ herstellte, zu deren auffälligsten Kennzeichen das repräsentative Format, das großzügige Layout und die großformatigen Federzeichnungen gehörten.

Die Firma machte mittels handgeschriebener Verkaufsanzeigen bereits Werbung für sich und fand für ihre Produkte im deutschen Sprachraum weiträumig Absatz. Die Käufer stammten aus dem begüterten Stadtbürgertum oder aus dem Adel; die meisten von ihnen waren auf irgendeine Weise mit den Höfen der Grafen von Württemberg, der Markgrafen von Baden und der Pfalzgrafen verbunden. In zwei der überlieferten Bücheranzeigen (UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 314, und British Library, Add. Ms. 28752) wird unter den lieferbaren Handschriften auch ein bebilderter „Wigalois“ aufgeführt.

Der Text der Donaueschinger Wigalois-Handschrift, die in der Forschung mit der Sigle k bezeichnet wird, ist in oberrheinischer Schreibsprache abgefasst. Er ist auf insgesamt 222 Blättern einspaltig und in abgesetzten Versen von einer Hand sehr sorgfältig geschrieben; die Textabschnitte sind durch meist zweizeilige Initialen gegliedert. Die für den Textbeginn vorgesehene große W-Initiale ist nicht ausgeführt worden. Die Schrift ist eine gut lesbare Bastarda. Beim Abschreiben sind dem Schreiber mehrfach Fehler unterlaufen, gelegentlich hat er Verse ausgelassen und einmal eine ganze Doppelseite versehentlich nicht beschrieben. Am Schluss des Textes auf Bl. 219v hat der Schreiber eingetragen: „Qui me schribebat / nomen suum nesciebat / si melius scripsisset / nomen suum imposuisset / Explicit liber iste / Laus tibi.“ Zu Deutsch: „Der mich schrieb, dessen Namen weiß man nicht. Wenn er besser geschrieben hätte, hätte er seinen Namen dazugesetzt. Hier endet dieses Buch. Dir gebührt das Lob.“

Die herausragende Bedeutung der Handschrift gründet auf ihrer lebhaften Illustration, die den Text visualisiert und aufschlussreich interpretiert. Enthalten sind 30 (von ehemals 31) halb- bis ganzseitige farbige Federzeichnungen von der Hand eines einzigen Zeichners in Grün-, Rot-, Gelb- und Brauntönen, die die Geschichte dem Publikumsgeschmack entsprechend schwungvoll und vergnügt in Szene setzen. Eine Bildseite aus der Ruel-Episode wurde schon vor der ersten Textedition herausgeschnitten, dadurch fehlen heute die Verse 6265–6296. Die Bebilderung der Wigalois-Geschichte nimmt im Verlauf der Handlung immer stärker ab, lässt wesentliche Episoden aus und reicht auch nur bis zur Heirat und Krönung des Titelhelden; das letzte Fünftel der Dichtung blieb völlig unillustriert. Die Bildbeschriftung ist teilweise fehlerhaft: An mehreren Stellen finden sich Bildüberschriften, aber es blieb kein Raum ausgespart für das zugehörige Bild (Bl. 22r, Bl. 38v, Bl. 69v); eine Abbildung ist mit zwei verschiedenen Überschriften für dieselbe Szene versehen (Bl. 122r) und drei Bildüberschriften sind sachlich unrichtig (Bl. 8r, Bl. 27r und Bl. 114r). Das ist sehr aufschlussreich für den Entstehungsprozess der Handschrift, denn entweder verfolgte der Schreiber den Text, den er da abschrieb, nur sehr oberflächlich oder er schrieb die Überschriften von einer falschen oder unleserlichen Vorlage ab. Dass er die Bildüberschriften direkt aus einer bereits bebilderten Vorlage übernahm, ist aufgrund der Fehler eher unwahrscheinlich. Vermutlich gab es lediglich eine Textvorlage mit annotierten Illustrationsanweisungen.

Die Illustrationen konzentrieren sich auf die Darstellung der handelnden Personen, die kaum individualisiert dargestellt und nur an den ihnen zugeordneten Attributen erkennbar oder durch die Bildüberschrift bezeichnet sind. Sie dominieren das Bild völlig, besonders ihre Hände sind übergroß, und im Verhältnis zu allem, was sonst gezeigt wird – Architektur, Reittiere, aber auch Außenraum wie Bäume und Seen – sind die Figuren überproportioniert. Dass dem Illustrator die Wiedererkennbarkeit auch über eine Szenenfolge hinweg nicht wichtig war, lässt sich beispielsweise daraus schließen, dass identische Figuren keineswegs gleich dargestellt sind: König Artus und Ritter Gawein etwa werden mal mit, mal ohne Bart gezeigt. Viele Szenen wiederholen Bildmuster, die schon früher im Text gewählt wurden. Der Text spielt ohnehin im Detail keine Rolle für die bildliche Darstellung. Der Illustrator kannte den Text offenbar kaum und hat vor allem die Bildüberschriften bildlich umgesetzt. Auf die ausführlichen Gewandbeschreibungen im Text, die dem Leser des 13. Jahrhunderts die aktuelle Mode vorführten, wird kein Bezug genommen und die magischen Gegenstände, die Wigalois im verzauberten Korntin Nutzenstiften sollen, sind nirgends abgebildet. Das Wichtigste an der Darstellung scheint die Kommunikation der Abgebildeten miteinander.

Landschaftselemente und Gebäude werden nur angedeutet, Innenraum ist nicht dargestellt und die Perspektive spielt ebenso wenig eine Rolle wie die Größenverhältnisse. Jedes Bild zeigt eine gleich grüne Bodenfläche. Häufig vorkommende Bäume sehen aus wie eine dreizinkige Gabel mit aufgesteckter, meist fünfbogiger Blätterwolke. Ein Dekor mit aus sechs roten Punkten zusammengesetzten Blüten auf hellgrünen Stängeln füllt alle Lücken. Es findet sich auch in anderen Handschriften vermutlich desselben Illustrators: zweier Historienbibeln in Dresden (Mscr. Dresd. A 50, ab Bl. 98r) und London (Add. Ms. 24917, noch nicht digitalisiert) und einer Handschrift des Alexander-Romans von Rudolf von Ems in München (Cgm 2013).

Festzustellen ist zudem, dass die formal wie inhaltlich konsequent reduzierte Bebilderung sich im Wesentlichen auf typische Szenen der höfischen Epik bezieht und gespenstische Vorgänge ebenso wie die heilsgeschichtlichen Bezüge der Begebenheiten im Jenseitsreich Korntin ganz außer Acht lässt. Das aber war nicht die Entscheidung des Illustrators – welche Szenen darzustellen sind, war ihm ja durch die Bildüberschriften genau vorgegeben. Und interessanterweise sind einige Bildüberschriften auch direkte Anweisungen an ihn, so der Empfang des Gawein durch König Artus auf Bl. 31r, wo die Überschrift lautet: „Hie mache wie kunig artus sinen neffen her gawin enphohet mir rittern und mit knechten …“, oder das Modalverb „sollen“ auf Bl. 40v, wo es heißt: „Hie ritet uz einer burge ein riter verbunden mit eime helm mit sinen knechten und sol sin sper under geslagen sin und sol her wigelis ouch also riten gegen ime und durch den ritter stechen“, und auf Bl. 66v, wo es zu Abbildung von Schaffiluns Zelt heißt: „dar under sol ein künig sin und mit herwigelis sprechen“.

Von der Bildausstattung der 1372 im niedersächsischen Zisterzienserkloster Amelungsborn für Herzog Albrecht II. von Braunschweig-Grubenhagen geschriebenen Leidener Wigalois-Handschrift B), die den Romantext sehr detailliert bebildert und gerade auch die fantastischen Erlebnisse im verzauberten Korntin illustriert, die Einzelszenen jeweils aber in einem vielfarbigen und vom horror vacui beherrschten Teppichmuster geradezu untergehen lässt, unterscheidet sich der zeichnerische Bilderzyklus der Donaueschinger Handschrift grundlegend. So kommentiert und wertet die Illustration eines zum Zeitpunkt der Niederschrift schon zweihundert Jahre alten Romans sehr genau, was in ihrem Gebrauchszusammenhang noch relevant ist und was ein Leser des 15. Jahrhunderts an diesem Text spannend finden kann.

Die Hagenauer Schreibwerkstatt, berühmt für die hohe Qualität ihrer Handschriften in Bildausstattung und Textbeschaffenheit, hat wesentlichen Anteil an der Überlieferung jener literarischen Texte des Hochmittelalters, die im 15. Jahrhundert in verändertem gesellschaftlichem Kontext noch einmal neu und anders rezipiert wurden. Käufer eines Artusromans von kanonischem Rang – neben dem „Wigalois“ vertrieb die Lauber-Werkstatt auch den „Iwein“ Hartmanns von Aue, den „Parzival“ Wolframs von Eschenbach und den „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg – vergewisserten sich durch den Besitz einer solchen Handschrift der ideellen Teilhabe am überlieferten ritterlichen Wertekanon und daraus folgend des Anspruchs auf eine führende gesellschaftliche Stellung.

Der Einband der Handschrift wird aufgrund des Wasserzeichens im Vorsatzpapier in das zweite Viertel des 16. Jahrhunderts datiert. Er ist ein heller Halblederband mit Holzdeckeln, Pergamentrücken, zwei Kupferschließen, Rollen- und Einzelstempelpressungen (Adlerraute, Eicheln, Rankenwerk, Büste eines gekrönten Mannes im Profil). Auf dem Vorderschnitt (für liegende Aufbewahrung) ist mit Tinte der Titel „VIGELIS VOM RAD“ geschrieben. Auf dem Rücken hat Joseph Victor von Scheffel als ehemals Donaueschinger Bibliothekar den Titel für stehende Aufbewahrung aufgetragen: „König Artus? / d. i. Wigalois vom Rade Hdschr. 1400“. Auf dem unteren Schnitt ist die Zahl 88 eingetragen. Ein Papierschild „71“ bezeichnet die Donaueschinger Handschriftensignatur und auf Bl. 1r wie Bl. 219v ist der Bibliotheksstempel der Fürstliche Fürstenbergischen Bibliothek angebracht.

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