Rhizom II

Vernetzung und Kombination

Was in unserer heutigen Zeit eines mehr und mehr ‚vernetzten‛ Denkens selbstverständlich scheint, stellte in den 1980er-Jahren noch einen radikal neuen philosophischen Ansatz dar. Dem (vermeintlich) linear und zielgerichtet voranschreitenden Denkprozess setzte der französische Philosoph Gilles Deleuze
(1925–1995) ein dreidimensionales, durch vielfache Verbindungslinien vernetztes Denken entgegen:

„In einem Rhizom gibt es keine Punkte oder Positionen wie etwa in einer Struktur, einem Baum oder einer Wurzel. Es gibt nichts als Linien.“ Dabei gelte das „Prinzip der Konnexion und der Heterogenität. Jeder beliebige Punkt eines Rhizoms kann und muß mit jedem anderen verbunden werden.“

Solche rhizomartig verbundenen Strukturen findet man etwa bei neuronalen, im Gehirn ablaufenden Übertragungsprozessen elektrischer Ladungen, Pilz-Myzelien, Ingwerknollen und sozialen Netzwerken im Internet. Dieser Rhizom-Philosophie widmete Joachim Krebs eine ganze Werkreihe:
1981 Rhizom I
1982/91 Rhizom II
1983 Rhizom III

Die Stücke sind auch stark vom Kontakt mit Komponisten der amerikanischen Minimal Music geprägt, die Joachim Krebs während eines Stipendienaufenthalts in den Vereinigten Staaten von Amerika kennen lernte (so etwa Steve Reich und Philip Glass, führende Vertreter dieser musikalischen Richtung). Minimal Music ist durch kontinuierliche Repetition von kleinsten melodischen und rhythmischen Patterns gekennzeichnet. Diese werden graduell, fast unmerklich verändert und erscheinen somit in immer neuen Permutationen und Kombinationen.

Rhizom II – grafische Skizze, Formplan, Synchronisation von sechs Schlagzeugern sowie Tonbandspur

Rhizom II – grafische Skizze, Formplan (vor 1982)
Synchronisation von sechs Schlagzeugern sowie Tonbandspur

Für das zweite Stück seiner Werkreihe Rhizom forderte Joachim Krebs eine stark erweiterte Schlagzeugbesetzung mit insgesamt sechs Perkussionisten (bzw. für eine später entstandene Fassung einen Schlagzeuger und Tonband). Bei dieser nach dem Vorbild von Minimal Music gestalteten Musik die verschiedenen Abläufe zeitlich zu koordinieren, stellt eine besondere Herausforderung und komplexe Aufgabe dar, denn an bestimmten ‚Fixpunkten‘ müssen alle Stimmen wieder zusammentreffen. Allein schon das breit gefächerte Instrumentarium so im Raum zu verteilen, dass jeder Spieler alle jeweils benötigten Instrumente rechtzeitig erreichen kann, erfordert ein hohes Maß an Planung.

Badische Landesbibliothek, K 3353, A 15

 
Rhizom II – Skizze mit Schlussvermerk, Ende der Komposition: „letzte Seite“ sowie Schlussvermerk

Rhizom II – Skizze mit Schlussvermerk (1982)
Ende der Komposition: „letzte Seite“ sowie Schlussvermerk

Mit der amerikanischen Minimal Music, die auf der kontinuierlichen Wiederholung von Patterns beruht, kam Krebs während eines vom German Marshall Fund of the U.S.A. finanzierten Stipendiums näher in Berührung. In dieser Zeit beschäftigte er sich ausführlich mit der damals neuen, dem Serialismus entgegengesetzten Richtung und nahm auch Techniken daraus in eigene Werke mit auf. So auch in Rhizom II, das auf der Überlagerung rascher Figuren aus Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelnoten beruht. Unterschiedliche Gruppierungen werden kunstvoll ineinander verflochten bzw. übereinander geschichtet. In der mit „18.4.82“ datierten Skizze werden verschiedene Permutationen von Patterns erprobt (XGZ XZG etc.).

Badische Landesbibliothek, K 3353, A 15

 
Rhizom II – Skizze, verschiedene Permutationen und Kombinationen

Rhizom II – Skizze (undatiert, vor 1982)
Verschiedene Permutationen und Kombinationen

Der Reiz von Kompositionen nach Art der Minimal Music besteht in der kontinuierlichen Wiederholung von Mustern, die aber durch minimale Veränderungen stets fast unmerklich variiert werden. Es entsteht eine hypnotisch-meditative Wirkung dieser Musik mit winzigen graduellen Veränderungen, die dennoch einen rhythmisch einheitlichen Puls aufweisen. Aus unterschiedlichen Permutationen und Vernetzungen der Patterns sowie deren Verbindungslinien untereinander ergibt sich ein dicht gewobenes Geflecht aus Strukturen, ähnlich dem von Gilles Deleuze theoretisch beschriebenen Rhizom. In der Skizze ist die Zuordnung „R“ (rechts) und „L“ (links) durch die Richtung der Notenhälse markiert.

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Rhizom II – Zeichenerklärung, Vorwort der Partitur

Rhizom II – Zeichenerklärung (1982)
Vorwort der Partitur

Auch das Vorwort der Partitur von Rhizom II, das u.a. verschiedene Aufführungsvarianten des Werks beschreibt, zeigt die planvoll durchdachte Konzeption: Sogar die einzelnen Seiten bzw. Blätter der Partitur waren von Joachim Krebs so beschriftet worden, dass die Blätter problemlos auf die verschiedenen Notenständer verteilt werden konnten und nicht erst mühsam kopiert werden mussten. Mag diese ‚Randnotiz‘ im Partiturvorwort (rechts unten) vielleicht wie eine Kleinigkeit erscheinen, so lässt sie doch Rückschlüsse auf die Kompositionsweise eines Menschen zu, der schon während der Niederschrift des Notentextes alle Parameter im Blick hatte – sogar Detailfragen wie die Verteilung einzelner Blätter bei der späteren Aufführung.

Badische Landesbibliothek, K 3353, A 15

 

Rhizom II – Partitur, Ausschnitt aus der Partitur für den Peer Musikverlag

Rhizom II – Partitur (1982)
Ausschnitt aus der Partitur für den Peer Musikverlag

Die Reinschrift von Joachim Krebs für die Ausgabe des Werks im Peer Musikverlag zeigt die außergewöhnliche Komplexität dieser Musik, bei der sich an den verwendeten Patterns (vermeintlich) nicht viel ändert. Ganz allmählich werden Patterns graduell rekombiniert, so dass der Klangeindruck für den Hörer auf unauffällige Weise wechselt und immer neue Farbschattierungen annimmt. Die geradezu hypnotische Wirkung der Musik entsteht aus diesem konstanten Spiel zwischen Repetition und Veränderung. Auch ohne große Effekte oder Kunstgriffe ist das Ohr des Hörers permanent damit beschäftigt, die minimalen Veränderungen nachzuvollziehen und die unterschiedlichen Linien nachzuverfolgen.

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Rhizom II – Programmheft, Programm der Uraufführung mit Robyn Schulkowsky

Rhizom II – Programmheft (1991)
Programm der Uraufführung mit Robyn Schulkowsky

Für die Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky entstand im Jahr 1991 eine Fassung des ursprünglich für sechs Schlagzeuger entworfenen Werks für eine einzelne Interpretin und Zuspielband. Das vorab produzierte Klangmaterial übernimmt hier die Rolle der weiteren Interpreten, der / die Live-Interpret(in) spielt eine live hinzugefügte, nicht ausnotierte siebte Stimme. Diese Fassung erlebte am 14. Juni 1991 im Freiburger E-Werk ihre Uraufführung (es liegt auch eine CD-Einspielung vor). Eine weitere Aufführung dieser Fassung für eine Interpretin mit Zuspielband durch die junge Karlsruher Schlagzeugerin Leonie Klein wird im Begleitprogramm der Ausstellung zu erleben sein.

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