Wie war's denn so? Ein Karlsruher Heldengespräch

Aufzeichnung sowie Übertragung ins Neuhochdeutsche:
Julia von Hiller und Jens Rügge. Freischaltung: 30.6.2022 13.15 Uhr

DOI: https://doi.org/10.58019/mjkq-1c69

Die Szene spielt am Mittag des 24. Juni 2022. Wigalois vom Rade, ein Artusritter, ist zurück im Handschriften-Tresor der Badischen Landesbibliothek. Die treuen Gefährten auf den Regalböden unter und über ihm befragen ihn zu seinen Erlebnissen auf der Tagung, die seinetwegen am 23. und 24. Juni 2022 in der Badischen Landesbibliothek stattgefunden hat.

Wigalois hatte sich für zwei Tage in den Vortragssaal der Bibliothek begeben, um den dort anwesenden Forschern zur genaueren Untersuchung zur Verfügung zu stehen. Nach seinem Verkauf aus der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen im Jahr 1990 war er längere Zeit verschollen gewesen, doch hatte er Ende 2018 für die Badische Landesbibliothek gekauft werden und also der Forschung wieder zugänglich gemacht werden können. Da die übrigen Helden der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters aus der Donaueschinger Bibliothek schon seit 1994 in Karlsruhe wohnen, war er als ein Versprengter wieder in seine angestammte Heldenrunde zurückgekehrt. Mehr als hundert Tagungsgäste interessierten sich nun lebhaft für ihn als bebilderten Versroman aus dem Werkstattumfeld der Handschriftenmanufaktur des Diebold Lauber im elsässischen Hagenau.

Das Foto zeigt im Vordergrund die Wigalois-Handschrift und dahinter die erste Reihe der Anwesenden mit den Referenten der Tagung.

Es treten auf:

Tagungsleiterin Prof. Dr. Sabine Griese blättert in der Donaueschinger Wigalois-Handschrift

Tagungsleiterin Prof. Dr. Sabine Griese blättert in der Donaueschinger Wigalois-Handschrift

Prolog

Parzival: Na, warst du noch mal kurz weg?

Wigalois: Ja klar, bei meiner Vorgeschichte musste ich mich noch einmal einer genaueren Untersuchung unterziehen. Immerhin war ich zwischendurch fast 30 Jahre verschollen und niemand konnte irgendwelche Analysen an mir durchführen. Da waren die von der Wissenschaft doch ziemlich gespannt auf mich.

Josaphat: Aber du bist doch nun schon seit mehr als drei Jahren wieder zuhause bei uns.

Wigalois: Und seither bin ich ziemlich gefragt, findet ihr nicht? Es ist ja nicht jeder von euch so oft hier rausgeholt worden wie ich in letzter Zeit.

Ortnit: Immerhin sind wir alle schon seit 2013 digitalisiert und wissen gar nicht, wer irgendwo auf der Welt auf uns zugreift. Ob du interessanter bist als wir, weißt du doch gar nicht.

Siegfried: Dann wollen wir aber mal eines klarstellen: Ich bin schon seit 2003 digitalisiert! Als ich 2001 wieder nach Hause kam, wurde ich gleich im Internet präsentiert. Der Bedeutungsunterschied zwischen uns ist ja wohl ohnehin erwiesen – immerhin gehöre ich seit 2009 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe.

Willehalm: Du, das nervt. Du hast das doch gar nicht nötig, immer so dein tolles Renommee zu betonen.

Josaphat: Es sollte doch aber mal gesagt sein, dass Originaltexte des 13. Jahrhunderts wie Siegfried, Dietrich und ich von größerem Wert sind als solche späten Abschriften aus dem 15. Jahrhundert wie du, Willehalm, der Wigalois und all ihr anderen.

Willehalm: Das kann ja wohl nicht wahr sein! Guck dich mal an, auf was für miesem Pergament du geschrieben bist! Alles voll Löcher und Risse! Alles voller Korrekturen und Ergänzungen! Und total abgegriffen. Da willst du dich doch nicht etwa vergleichen mit Wigalois? Wir wissen doch, dass der ein echtes Schmuckstück ist, so großzügig, wie der Text in viel Weißraum platziert ist, so sauber, wie er geschrieben ist, und so geschmackvoll, wie seine Illustrationen ausgefallen sind. Deshalb hat ihn der amerikanische Immobilienunternehmer damals 1990 ja auch haben wollen. Uns wollte er nicht!

Josaphat: Aber ich bin ein literarischer Stoff von Weltniveau. Mich gibt’s in Arabisch, Georgisch und Griechisch, in Latein, Französisch und Italienisch. Seit tausend Jahren. Und Wigalois? Ein Artusritter von echt beschränkter Regionalität. Bloß auf Deutsch.

Willehalm: Aber du hast es auch erst im 13. Jahrhundert ins Deutsche geschafft.

Meleranz: Vielleicht stellen wir hier mal fest, dass sich ein indischer Prinz sowieso nicht vergleichen kann mit einem Artusritter. Abgesehen von Parzival sind allenfalls Gauriel und ich dem Wigalois gleichgestellt, obgleich er, das gebe ich gern zu, doch wie ein etwas älterer Bruder für uns ist.

 

Christoph Mackert steht mit drei Kollegen der BNU im Innenhof der Badischen Landesbibliothek.

Tagungsleiter Dr. Christoph Mackert mit Christophe Didier, Madeleine Zeller und Daniel Bornemann von der Bibliothèque Nationale et Universitaire in Strasbourg bei einer Pause im Innenhof der Badischen Landesbibliothek

1. Szene: Wer war eigentlich da?

Parzival: Vielleicht kommen wir mal wieder zurück zu der Tagung? Was ist denn nun bei deiner Untersuchung herausgekommen?

Gauriel: Hat das überhaupt wen interessiert, was mit dir los ist?

Wigalois: Ja klar, es waren über hundert Gäste da und die Stimmung war gut, alle haben sich bestens verstanden und sich großartig miteinander unterhalten. Es war heiter und beschwingt wie zu unseren besten Zeiten am Artushof.

Parzival: Naja, dann waren doch sicherlich wieder nur die einschlägigen Leute da.

Wigalois: Das denkst du! Das waren ganz verschiedene, die kamen aus sechs Ländern.

Ortnit: Na, was man heute so Länder nennt. Waren auch Lamparter da?

Wigalois: Aus Bozen waren Leute da, das gehörte ja mal zum Langobardenreich. Die Gäste kamen aus Frankreich, aus der Schweiz, aus Italien, aus Luxemburg und sogar aus den Niederlanden. Und aus Deutschland natürlich.

Ortnit: Sind denn auch welche von dir zu Hause dabei gewesen?

Wigalois: Natürlich! Die BNU in Strasbourg hat gleich drei Leute geschickt. Und meine ganze Familie war da.

Willehalm: Was denn für eine Familie?

Wigalois: Na, die Gräfenberger, die dort in der fränkischen Heimatstadt meines Dichters höchst lebendig mein Andenken pflegen. Und die Runkelsteiner, die auf meine Burg aufpassen.

Ortnit: Du hast doch keine Burg in Südtirol!

Wigalois: Doch, da haben sie meine Geschichte um 1390 auf die Wände gemalt. Das beweist immerhin, dass ich als literarischer Stoff mit langer Tradition längst ein Klassiker war.

Parzival: Na, das gilt ja wohl für uns alle. Ich bin auch gemalt in Runkelstein.

Willehalm: Ich auch.

Ortnit: Ich auch.

Siegfried: Naja, und Dietrich und ich sowieso.

Gauriel: Und was waren das für Leute, die da über dich geredet haben?

Wigalois: Ach, es waren lauter kluge und interessierte Leute versammelt und die waren total interdisziplinär. Es waren die üblichen Germanisten da, aber auch Kunsthistoriker und natürlich die Handschriften-Experten. Und ganz besonders habe ich mich darüber gefreut, dass die Karlsruher Mediävisten aus dem Institut von Professor Herweg auch alle da waren.

Gauriel: Und was war mit deinen 37 Wigalois-Kollegen?

Wigalois: Einige haben ihre Abteilungsleiter geschickt. Aber die Kollegen spielten eigentlich keine Rolle. Es ging doch um mich. Ich war ganz alleine da.

Parzival: Das Ganze hat ja nur stattgefunden, weil du so teuer gewesen bist.

Siegfried: Ich war noch viel teurer!

Wigalois: Ja genau, und deshalb lassen sie dich hier ja auch nicht mehr raus. Das hast du nun von deinem Welterbe-Status.

Siegfried: So ganz anders geht’s dir ja nun auch nicht. Auch über dich müssen die Bibliothekare hier alle fünf Jahre an die Eigentümer Bericht erstatten und zeigen, dass du noch da bist und keinen Schaden genommen hast.

Gauriel: Waren denn auch deine Eigentümer da?

Wigalois: Nein, die konnten nicht. Die mussten auf der Kunstmesse in Maastricht neue Handschriftenangebote prüfen und das ist klar wichtiger. Leider ist die Kunstmesse wegen Corona gerade auf unseren schon lange feststehenden Termin geschoben worden, da konnten die Geschäftsführer der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Kulturstiftung der Länder nicht kommen. Und die Bundesregierung und die Landesregierung konnten auch niemanden entsenden, momentan haben die ja echt viel Politik.

Dietrich: Wie, auch die Leute von der Wüstenrot Stiftung mussten Handschriften kaufen? 

Wigalois: Nein, die nicht, die sammeln ja sonst keine Handschriften, die haben nur mich. Aber das muss ich schon sagen: Sie haben sich als Mäzen der Tagung außerordentlich großzügig gezeigt. Also wirklich, deren milte war überwältigend. Sie haben die ganze Tagung finanziert.

Meleranz: Sag mal, war dir das da nicht zu warm? Es ist doch Sommer und draußen waren fast 30°.

Wigalois: Nein, gar nicht. Das ist schon klasse hier in der BLB. Die haben da hinten diesen hervorragend klimatisierten Vortragssaal, da habe ich mich pudelwohl gefühlt.

Meleranz: Haben sie denn wenigstens gut auf dich aufgepasst, wo du doch so teuer warst?

Wigalois: Natürlich! Sie haben schon gar keine Leute reingelassen, die nicht angemeldet waren, damit mir keiner zu nahe kommt, von dem sie nichts wissen. Und die Frau Kammermeisterin Stello ist mir keine Minute von der Seite gewichen. Überhaupt haben die hiesigen Dienstleute sich sehr um mich bemüht und meine Gäste unbedingt zufrieden stellen wollen. Die Truchsessin war so beschäftigt, die hat überhaupt keiner der Gäste zu Gesicht bekommen. Und die Mundschenken hatten ganz allerliebste Livree an, früher nannten wir das ja hovekleit.

Mehrere Personen betrachten die vor ihnen liegende Handschrift unter de Digitalmikroskop.

Die Donaueschinger Wigalois-Handschrift unter dem Digitalmikroskop

2. Szene: Wovon war eigentlich die Rede?

Parzival: Vielleicht können wir endlich mal zur Sache kommen? Was haben sie denn nun über dich herausgefunden?

Wigalois: Als erstes haben sie herausgefunden, dass ich ein ganz großartiger Text bin.

Parzival: Aber das wussten wir schon. Wenn sich einer die Mühe macht, dich als 200 Jahre alten Text noch im 15. Jahrhundert auf den Markt zu bringen, dann musst du ja wohl auch da noch lesenswert gewesen sein.

Wigalois: Ja, das hat die Frau Professor Griese auch bestätigt. Sie hat meinen ganzen Text untersucht und festgestellt, dass mein Schreiber, der mich ja an die aktuelle Sprache meiner Absatzregion am Oberrhein anpassen musste, sehr klug agiert hat. Sie hat gesagt, ich sei ein sehr qualitätvoller und gut lesbarer Text. Und sie will mich neu herausgeben.

Meleranz: Na, Glückwunsch. Von meinem Schreiber Gabriel Lindenast wissen sie ja schon lange, dass er Autorqualitäten hatte.

Parzival: Ich finde das gut. Endlich nimmt mal jemand deinen Text ernst und betrachtet dich nicht bloß als eine Verfallsform zum imaginären Original vom Anfang des 13. Jahrhunderts. Das hätte ich ja auch mal gern. Von mir gibt es so viele Überlieferungszeugen. Und niemand kam je auf die Idee, meine ostfränkische Version von 1470 neu zugänglich zu machen! Dabei bin ich in einer so gut lesbaren Bastarda geschrieben!

Gauriel: Da bist du aber nicht der einzige! In gut lesbarer Bastarda sind wir alle geschrieben. Bloß Josaphat und Dietrich sind in der veralteten Textualis.

Siegfried: Dann sollte aber auch klar sein: Kalligrafisches Niveau wird nur mir und meiner frühgotischen Minuskel bescheinigt.

Parzival: Um dich geht’s aber nicht heute.

Meleranz: Ich finde gut, dass Frau Professor Griese jetzt eine Neuausgabe von Wigalois macht. Es gibt von ihm ja nur eine Edition nach der ältesten Handschrift in Köln und die ist fast hundert Jahre alt. Von mir gibt’s immerhin eine eigene Edition von 2011. Ihr anderen kommt alle bloß in Lesarten-Verzeichnissen vor. Das muss sich endlich ändern.

Dietrich: Ich finde, man sollte es bei euch allen wie bei mir machen. Ich bin schon im Volltext lesbar und mit XML ausgezeichnet. Ich und mein Digitalisat sind volltextdurchsuchbar. Das kann keiner von Euch sagen.

Wigalois: ich hoffe doch, dass sie das mit mir jetzt auch machen. Die Frau Professor Griese und ihr Team haben die Transkription schon fertig. 

Dietrich: Und überhaupt: Wenn das dann mit allen deinen Textkollegen auch geschähe, könnten die Forscher ganz wunderbare diachrone Vergleiche anstellen und bekämen wahrscheinlich noch viel Interessantes über deinen Romantext und seine Überlieferung heraus.

Gauriel: Was ist denn jetzt mit deinen Stills, haben sie das endlich herausgefunden?

Wigalois: Du glaubst es kaum, aber so war es. Die Frau Dr. Krenn hat sich richtig mit mir beschäftigt und dann hat sie ihren Vortrag auch noch „Standbilder“ genannt. Da hat sie das dann mal öffentlich vorgetragen, das ist jetzt kein Geheimnis mehr.

Meleranz: Was sind denn Standbilder?

Wigalois: Ein Standbild ist ein einzelnes Bild aus einer Sequenz. Wie heute beim Film. So als ob der an einer bestimmten Stelle angehalten würde. Aber natürlich ist es eine ganz bewusste Entscheidung des Künstlers, an welcher Stelle er anhält. Und so ist das ja bei mir: Meine Bilder wirken wie isolierte Szenen aus einer Aufführung. Und deren Titel lesen sich wie Regieanweisungen.

Gauriel: Ist auch die Diskussion um die Symbolkraft deiner Bilder wieder losgegangen, das mit der Pietà bei der Trauerszene mit Japhite und Roaz oder das mit der Bildformel des Erzengels Michael bei der Drachentötung?

Wigalois: Ja klar, das ist ja immer Thema bei mir und stimmt ja auch. Der Frau Krenn sind aber auch neue Details aufgefallen: Wo mich die Ruel so wie ein Brett durch die Gegend trägt, da findet sie, dass das so aussähe, wie wenn ich in einen Stock gefesselt wäre – meine im Stock versteiften Beine sind einfach steif geblieben. Und dazu hat sie festgestellt, dass in der Bildauswahl ganz klar die höfischen Themen der Minne und des Turniers verbunden sind: Es gibt überall eine klare Unterscheidung von höfisch und unhöfisch – zum Beispiel schon bei den Helmen, wo ich einen Kolbenturnierhelm trage und die beiden Riesen, die ich besiege, bloß eine Beckenhaube. Meine unhöfischen Kontrahenten haben ihre Beziehung zu Frauen jedenfalls nicht im Griff: nicht bloß die beiden potenziellen Vergewaltiger, sondern auch alle anderen. Guckt Euch mal das Bild vom Roten Ritter an, wie er die Dame im Arm hält – das ist doch ganz klar der Bildtypus vom Alten und dem Mädchen, fast schon wie bei Cranach. Manchmal gehe ich allerdings selbst auch zu weit: Bei meinem Abschied von Roimunt trete ich der Königin auf das Gewand. Da ist der Maler eindeutig zu weit gegangen, er kennzeichnet mein Verhalten als unzüchtig, aber im Text steht das gar nicht und natürlich habe ich mich immer völlig anständig gegenüber meiner Herzensdame verhalten. Lauter solche Dinge hat Frau Krenn herausgefunden. Das war schon ziemlich eindrucksvoll.

Meleranz: Was haben sie denn diesmal über deinen Tugendstein gesagt? Haben sie wieder so unzulässige Modernisierungen vorgenommen und den Stein mit dem Tulip Chair von Eero Saarinen verglichen?

Wigalois: Ja, da gab es eine heiße Diskussion. Und am Ende stand doch wirklich die Behauptung, ich säße auf einem Kelch und das wäre tatsächlich so gemeint und das wäre wirklich eine Überhöhung meiner Person ins Sakrale. 

Parzival: Und alle waren dafür?

Wigalois: Ich glaube, das blieb irgendwie offen. Nachher hat die Frau Professor Backes noch sehr überzeugende Vergleichsbelege von Taufsteinen gefunden, die so kelchförnig aussehen wie mein Tugendstein. Da ist eine anregende Diskussion in Gang gekommen. Jedenfalls war klar, dass ich in den Bildern alle Attribute eines Miles christianus aufweise.

Siegfried: Boah, dann holt mal den Heiligenschein.

Wigalois: Du glaubst es nicht: den haben sie gefunden. In der Szene, wo ich aussehe wie der heilige Michael, ihr wisst schon: wo ich diesen mickrigen Drachen ersteche, da habe ich ja mein Glücksrad hinter dem Kopf und da meinen die, das wäre so eine Art verrutschter Heiligenschein. Einig waren sich jedenfalls alle, dass meine Bilder in ihrer reduzierenden Form großartig sind und auf den Comic vorausweisen. Und dann haben sie klargestellt, dass bei Picasso ja auch keiner irgendeinen Fotorealismus erwartet. Das fand ich gut, schließlich musste ich mich früher lange genug über Leute ärgern, die meine Zeichnungen zu wenig kunstvoll fanden.

Siegfried: Bloß als Anmerkung: Der berühmteste Drachentöter bin ja wohl ich.

Gauriel: Ich bin aber auch einer. Mit Erfolg. Es war ja bloß Ortnit, der sich Dracheneier unterjubeln ließ und schließlich von den Drachen gefressen wurde.

Parzival: Über unsere Inhalte wollen wir jetzt aber nicht sprechen. Wir wollen doch wissen, was auf der Tagung los war.

Willehalm: Angeblich wollten sie doch etwas herausfinden über deine Materialität und deine Verkaufsgeschichte am Oberrhein. Haben sie deine Geheimnisse geknackt?

Wigalois: Also die Frau Sturm und die Frau Dr. Suwelack haben sich ja rührend um mich bemüht. Die haben alles herausgefunden über meine Lagenstruktur, meine Wasserzeichen, meine Schrift und meinen Einband. Jetzt können sie mich ganz genau datieren und verorten. Aber das Wichtigste wissen sie immer noch nicht: Wer hat mich beauftragt, wer hat mich geschrieben, wer hat mich ausgemalt, wer hat mich gekauft? Aber gut, irgendwas müssen die Späteren ja auch noch zu tun haben.

Parzival: Haben sie denn wieder mit dieser Werkstattfrage angefangen?

Wigalois: Ja, und der Herr Dr. Mackert hat jetzt mal deutlich gemacht: Meine Erzeuger haben gar nicht unbedingt zusammengesessen wie in einem Klosterskriptorium. Er konnte zeigen, dass die Maler, die die nordelsässische Produktion von Diebold Laubers Leuten illustriert haben, doch ziemlich weit herumgekommen sind. Vielleicht gab es damals ja auch längst schon „New Work“ bei denen, die saßen im Homeoffice ganz woanders als in Hagenau oder sie waren als Freelancer tätig. Jedenfalls muss man diese ganze Werkstattfrage im Auge behalten und auch die anderen Lauber-Handschriften dazu befragen, Papiere und Schreibhände identifizieren und vergleichen. Auf der Tagung jetzt wollten die Forscher den Werkstatt-Begriff ablösen durch etwas Neues, sowas wie Produktionskontext oder so. Ich denke aber, sie werden am Ende doch weiter bei dem Begriff Werkstatt bleiben, nur dass sich dann alle etwas Lockereres darunter vorstellen.

Parzival: Aber du bist ja auch echt im Teamwork entstanden. Dein Schreiber wollte eben gerade nicht, dass man weiß, wer er ist, das könnte ja wohl auch mal ernst genommen und respektiert werden. Die finden das doch jetzt alle so wichtig mit den Persönlichkeitsrechten und dem Datenschutz. Ist doch gut, wenn das mal auch historisch funktioniert. Immerhin hat dein Schreiber ja drunter geschrieben, dass er sich genannt hätte, wenn seine Handschrift besser gewesen wäre. War sie nicht und Schluss.

Meleranz: Haben sie denn mal ihren deutschen Horizont erweitert und geguckt, was anderswo war?

Wigalois: Ja, die Frau Professor Backes hat nach Frankreich rüber geschaut, das war für alle ziemlich erhellend, da ist nämlich vieles ganz anders. Als wir Klassiker im 15. Jahrhundert neu abgeschrieben wurden, da hat man in Deutschland die Versform beibehalten. In Frankreich hat man die Texte aber damals schon aufwändig in Prosa umgeschrieben, damit sie sich besser verkaufen lassen. Dafür haben die Schreiber in Frankreich viel länger am Pergament festgehalten, als bei uns schon längst das Papier durchweg üblich war.

Willehalm: Das kennt man ja. In Frankreich haben sie die Buchkunst immer viel höher geschätzt als bei uns und richtig Geld für schöne Bücher ausgegeben. In Deutschland hatten wir einfach immer einen deutlich geringeren Stellenwert in dieser Hinsicht. Hauptsache Text – eine Kostbarkeit brauchten wir nicht zu sein. Schaut euch doch mal unsere Reclam-Hefte an!

Wigalois: Aber ich jedenfalls war damals viel moderner: Meine Bilder sind nicht in den engen Rahmen einer Textspalte gezwängt wie bei meinen französischen Zeitgenossen. Meine Federzeichnungen dürfen sich frei ausbreiten und haben viel Raum.

Aus dem Hintergrund des Saals blickt man über das Publikum nach vorn auf die Bühne, wo die sieben in Schwarz gekleideten Studierenden den Text des Wigalois in Mittelhochdeutsch vortragen.

Wirnt von Grafenberg WIGALOIS. Szenische Lesung in Bildern mit Studierenden der Universität Freiburg. Leitung: Prof. Dr. Martina Backes, Petra Gack (Regie).

3. Szene: Und was haben sie jetzt als nächstes vor?

Parzival: Und wozu nun der ganze Aufwand? Was machen sie jetzt damit?

Wigalois: Sie machen einen Tagungsband.

Siegfried: Oh nein, nicht schon wieder!

Wigalois: Doch, natürlich. Und dann forschen sie weiter. Insbesondere wollen sie sich darum kümmern, im Verbund ihrer „Gewerke“, wie Frau Professor Griese das nennt, mehr über die Lauber-Werkstatt herauszufinden. Das scheint mir auch dringend geboten. Und die Frau von Hiller will noch ein bisschen mein Digitalisat anreichern.

Dietrich: Na klar. Sie will deinen transkribierten Volltext und den mit XML auszeichnen lassen, damit man dich und alle anderen Varianten deines Textes irgendwann mal gut miteinander vergleichen kann!

Wigalois: Genau! Und dann möchte sie der Frau Krenn noch die wissenschaftliche Bildbeschreibung entlocken, damit die auch an das Digitalisat angehängt werden kann. Und die soll dann auch mit Normdaten angereichert sein, damit man gezielt mit Schlagwörtern suchen kann. Und alle anderen sollen das auch machen, damit man dann über die Bildmotive Querverbindungen findet.

Parzival: Na, das wird doch nie was. Bis das Standard wird, vergehen bestimmt noch Jahrzehnte.

Wigalois: Jedenfalls haben sie mir jetzt hier ein Digitalmikroskop gekauft, mit dem sie alle meine Details ins 140-Fache vergrößern können.

Meleranz: Und dann können sie das auch auf ihre Bildschirme übertragen, wo sich das dann wieder alle zugleich anschauen können?

Wigalois: Genau. Zum Beispiel meinen Goldstaub.

Meleranz: Was denn für Goldstaub?

Wigalois: Frau Krenn hat herausgefunden, dass meine Miniaturen früher teilweise mit einer transparenten Goldlasur bestrichen waren. Vor allem bei der letzten Abbildung, dem Hochzeitsbild von Wigalois und Larie, ist das noch zu sehen.

Ortnit: Weiß doch jeder, dass das längst verbräunt ist und zum Teil auch krakeliert.

Willehalm: Und auf dem Digitalisat kann man das auch nicht sehen.

Wigalois: Na, deshalb war es ja so wichtig, dass sie hergekommen ist und ganz genau hingeschaut hat. Mit dem Digitalmikroskop kann man das sehr gut erkennen.

Parzival: Und wo haben sie das her?

Wigalois: Das hat ihnen die Badische Bibliotheksgesellschaft spendiert. Extra für mich. Aber ihr kommt bestimmt alle auch noch mal dran.

Parzival: Das hoffe ich doch.

Siegfried: Also, bei mir gibt's kein Gold. Bei mir trägt der Inhalt die Bedeutung ganz allein.

Parzival: Ach, fang doch nicht schon wieder an.

Josaphat: Sag mal, Wigalois, wieso bist du eigentlich schon wieder hier? Das Programm der Tagung geht doch noch weiter.

Wigalois: Ja, die Tagungsgäste machen noch einen Ausflug nach Strasbourg in die BNU. Da lebt ein Verwandter von mir, den sie sich anschauen. Ich wäre gerne mitgefahren. Aber ich durfte leider nicht.

Ortnit: Naja, Auslandreisen dürfen wir doch alle nicht einfach so unternehmen. Da müssen wir uns an das Kulturgutschutzgesetz halten. Sogar ich als Lamparter komme hier nicht einfach so weg.

Willehalm: Wer ist denn dein Verwandter in Strasbourg?

Wigalois: Ach, eigentlich habe ich zwei Verwandte dort: Der eine ist ein Psalter aus Diebold Laubers Werkstatt, den der Werkstattchef selbst geschrieben hat (Ms 2539); da sind sie jetzt auf die Idee gekommen, dass das sein ganz persönlicher Psalter gewesen sein muss. Aber ich denke, da müssen sie noch mal genauer dran.

Siegfried: Der stammt doch aus dem badischen Kloster Lichtenthal und gehört zu den Handschriften, die Fridegar Mone 1886 bei Trübner widerrechtlich zur Auktion gegeben hat!

Dietrich: Genau. Und die Straßburger Bibliothek musste damals schon sehr viel Geld dafür ausgeben.

Willehalm: Und der andere?

Wigalois: Der andere ist ein astro-medizinischer Kalender (Ms 7141). Den haben sie in Straßburg genau zur selben Zeit gekauft wie sie in Karlsruhe mich erworben haben. Der hat früher auch mal einem Amerikaner gehört.

Gauriel: Was soll das denn sein, ein astro-medizinischer Kalender?

Meleranz: Das ist ein Kalender, der für jeden Monat bestimmt, worauf besonders zu achten ist, damit die Gesundheit erhalten bleibt. Wetter- und Naturphänomene zum Beispiel oder Sternenkonstellationen.

Gauriel: In Latein?

Wigalois: Nein, der ist auch auf Deutsch verfasst. Und sehr kostbar auf Pergament geschrieben. Er stammt aus einem umfangreicheren Band, aus dem er irgendwann einmal herausgelöst und einzeln weiterverkauft worden ist. Die Miniaturen sind mit leuchtenden Deckfarben ausgeführt und sehr sorgfältig mit Gold ausgestattet. Das ist richtig Kunst, ganz fein ausgemalt.

Parzival: Und was hast du damit zu tun?

Wigalois: Der Kalender ist halt auch aus dem Werkstattzusammenhang von Lauber. Und das war ja das Thema der Tagung. Alle Teilnehmer haben eine sehr wichtige Aufgabe darin gesehen, die Fragen, die sich aus den Text-Bild-Material-Zusammenhängen ergeben, weiter zu erforschen.

Ortnit: Wie viele Lauber-Handschriften gibt es denn?

Wigalois: So ungefähr hundert. Bei manchen muss man eben noch genauer hinschauen. Und dann sehen wir ja jetzt doch auch, dass die Lauber-Maler auch Handschriften ausgestattet haben, deren Texte gar nicht aus der Lauber-Werkstatt stammen. Sie haben auch im Südelsass gearbeitet oder in Rheinfranken. Da hat die Forschung noch viel zu tun.

Siegfried: Findest du nicht, du solltest dich noch mal ordentlich bedanken?

Wigalois: Selbstverständlich. Das mache ich jetzt. Ich bedanke mich herzlich bei Sabine Griese und Christoph Mackert, die mir diese tolle Tagung geschenkt haben, bei allen Referentinnen, Moderatoren und Diskutanten, bei den Studierenden, die am Abend meinen Text rezitiert und für das Publikum lebendig gemacht haben, bei allen Zuhörern, die mit großem Interesse das Geschehen verfolgt haben, bei der BNU Strasbourg, die alle meine Gäste bei sich willkommen geheißen hat, bei allen Helferinnen und Helfern von der BLB, die sich sehr aufmerksam um die Gäste bemüht haben, bei der Karlsruher Mediävistik für ihre Mitwirkung als Gastgeberin, bei der Badischen Bibliotheksgesellschaft für das tolle Mikroskop und bei der Wüstenrot Stiftung für ihre ungewöhnliche Freigiebigkeit, die diese Tagung überhaupt nur möglich gemacht hat. Und ich hoffe, sie alle behalten mich in guter Erinnerung, besuchen mich recht oft und lassen sich auch in Zukunft noch was zu mir einfallen.

Parzival: Na, das war doch ein gutes Schlusswort. Da hattest du ja nun erst einmal genug Aufmerksamkeit für dich allein. Jetzt sind wir anderen auch mal wieder dran. Es gibt hier bei uns ja für die Forschung durchaus genug zu tun.

Mehrere Personen halten den schmalen Band nach oben und betrachten ihn von unten.

Untersuchung des Straßburger Kalenders vor Ort in der Bibliothèque Nationale et Universitaire am 24. Juni 2022

Wirnt, von Grafenberg / Wigalois
Handschrift
Fürstlich Fürstenbergische Hofbibliothek (Badische Landesbibliothek). Handschriftensammlung
Konferenz

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