Zum 100. Geburtstag von Italo Calvino

Aldo Venturelli (Gastautor) 01.03.2023 11.30 Uhr

DOI: https://doi.org/10.58019/1ptk-hb55

Italo Calvino ist ohne Zweifel einer der wichtigsten Schriftsteller in der gegenwärtigen italienischen Literatur. Auch außerhalb von Italien, besonders in den USA, sind seine Werke sehr erfolgreich und verhelfen ihm zu internationaler Bekanntheit.

Am 15. Oktober 1923 wurde er in der Nähe von Havanna auf Kuba geboren; dort arbeitete sein Vater damals seit mehreren Jahren als Agrarwissenschaftler. 1925, nur zwei Jahre später, kehrte die Familie nach Italien zurück; Calvino betrachtete sich zeit seines Lebens als ursprünglich von San Remo in Ligurien stammend. Dieser seiner Heimatstadt San Remo und der Persönlichkeit seines Vaters widmete er im Jahr 1962 – etwa zehn Jahre nach dem Tod des Vaters – eine seiner schönsten, dichten Erzählungen: Der Weg nach San Giovanni (La strada di San Giovanni).

Durch seine Eltern naturwissenschaftlich geprägt – sein Vater war Leiter einer Forschungsstation für Blumenzucht, seine Mutter war Mitarbeiterin am Botanischen Institut der Universität Pavia –, studierte Calvino ab 1941 zunächst Agrarwissenschaft in Turin. 1943 lebte er für einige Monate in einem Versteck, um der Einberufung in die italienische Armee zu entgehen. In dieser Zeit entwickelte er sich auch von einem nonkonformistischen, aufgeklärten Kopf zu einem entschiedenen Antifaschisten. 1944 nahm er am Widerstandskampf gegen die deutsche Besatzung in Ligurien teil. Diese Erfahrungen in der Resistenza als Zwanzigjähriger beeinflussten ihn in seiner Bildung als Intellektueller und Schriftsteller: Er verarbeitete sie 1946 in seinem ersten Roman Wo Spinnen ihre Nester bauen (Il sentiero dei nidi di ragno). Mit diesem Roman begann auch seine Zusammenarbeit mit dem Verlag Giulio Einaudi und mit bekannten Schriftstellern wie Cesare Pavese oder Natalia Ginzburg, die dort damals als Lektoren arbeiteten, sein literarisches Talent entdeckten und ihn förderten.

„Dies ist der erste Roman, den ich geschrieben habe; fast kann ich sagen, überhaupt das erste, was ich geschrieben habe, wenn man von ein paar Erzählungen absieht. Wie wirkt er auf mich, wenn ich ihn jetzt zur Hand nehme? Ich lese ihn weniger als eigenes Werk denn als ein Buch, das anonym aus dem allgemeinen Klima einer Epoche hervorgegangen ist, aus einer moralischen Spannung, aus einem literarischen Geschmack, der derjenige war, in dem unsere Generation sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wiedererkannte.
[…] Wir hatten den Krieg erlebt, und wir Jüngeren – die gerade noch rechtzeitig gekommen waren, um uns als Partisanen an ihm zu beteiligen – hatten nicht das Gefühl, von ihm zermalmt, besiegt, ‚verbrannt‘ worden zu sein: wir fühlten uns als vom Schwung der kaum beendeten Schlacht getragene Sieger, als die einzigen Bewahrer seines Erbes.“

Italo Calvino: Wo Spinnen ihre Nester bauen. Roman. Aus dem Italienischen von Thomas Kolberger. München, Wien 1992, Vorwort, S. 5. – zum Katalog

Calvino blieb immer, aber vor allem in jenen Jahren, politisch engagiert und setzte sich für einen demokratischen Kommunismus ein. Nichtsdestotrotz wandte er sich früh von der Literatur des italienischen und internationalen Neorealismus ab und der phantastisch-allegorischen Literatur zu. Themen wie die Entfremdung, der Protest gegen eine erstarrte Gesellschaft oder ein neues literarisches Interesse für den Roman des 18. Jahrhunderts, für das Erbe der Aufklärung, für die Strukturen der Märchen behandelte Calvino mit einer starken, ironischen Distanzierung und mit großer Fantasie. So entstand zwischen 1952 und 1959 der Zyklus Unsere Vorfahren (I nostri antenati) aus den drei Romanen Der geteilte Visconte, Der Baron auf den Bäumen und Der Ritter, den es nicht gab (Il visconte dimezzato, Il barone rampante und Il cavaliere inesistente).

Bilmontage von den drei Covermotiven "Der Baron auf den Bäumen", "Der geteilte Visconte" und "Der Ritter, den es nicht gab".

Abbildung der drei Cover
Italo Calvino: Unsere Vorfahren. Der geteilte Visconte. Der Baron auf den Bäumen. Der Ritter, den es nicht gab. Aus dem Italienischen von Oswalt von Nostitz. München, Wien 1991. S. 5, 99 und 383. – zum Katalog

Diese enge Verbindung zwischen Rationalität und Imagination wurde allmählich immer mehr zum wesentlichen Hauptmerkmal von Calvinos Werk. Im neuen kulturellen Klima der Neoavantgarde, die der Schriftsteller mit Interesse verfolgte, aber an dem er persönlich nicht teilnahm, experimentierte seine Literatur mit neuen Ausdrucksformen, die ein positives Verhältnis zu einigen Tendenzen der Wissenschaft seiner Zeit, wie z. B. die Kybernetik, und der Literaturtheorie, wie z. B. der französische Strukturalismus in seinen unterschiedlichen Anwendungen, schaffen wollten. Während der 1970er Jahre lebte er in Paris, verkehrte mit berühmten Persönlichkeiten wie Roland Barthes und wurde selbst international bekannt. Dort verfasste er auch seinen heute wohl größten Erfolg, der Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht (Se una notte d’inverno un viaggiatore, 1979), der mit nahezu allen literarischen Gattungen des 20. Jahrhunderts spielt und sich der problematischen Identität eines Schriftstellers im Verhältnis zur wachsenden Anonymität der Gesellschaft und der neuen Geschmäcker des lesenden Publikums widmet.

Zu sehen ist das Cover von Italo Calvinos Roman  Wenn ein Reisender in einer Winternacht von 1979.

Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht. Roman. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Frankfurt am Main 2013, S. 9. – zum Katalog

„Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Laß deine Umwelt im ungewissen verschwimmen. Mach lieber die Tür zu, drüben läuft immer das Fernsehen. Sag es den anderen gleich: ‚Nein, ich will nicht fernsehen!‘ Heb die Stimme, sonst hören sie’s nicht: ‚Ich lese! Ich will nicht gestört werden!‘ Vielleicht haben sie’s nicht gehört bei all dem Krach; sag’s noch lauter, schrei: ‚Ich fang gerade an, den neuen Roman von Italo Calvino zu lesen!‘ Oder sag’s auch nicht, wenn du nicht willst; hoffentlich lassen sie dich in Ruhe.“
Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht. Roman. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Frankfurt am Main 2013, S. 9.

Liste mit sechs Stichworten: Lightness, Quickness, Exactitude, Visibility, Multiolicity, Consistency

Italo Calvino: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Harvard-Vorlesungen. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München, Wien 1991, S. 5. – zum Katalog

Aber auch in seinen früheren Werken, z. B. in Die unsichtbaren Städte (Le città invisibili, 1972) oder in den Cosmicomics (Le Cosmicomiche, 1965) standen diese Themen mit ausgeprägter, treffender Schärfe im Vordergrund. 1980 kehrte Calvino nach Rom zurück, um 1984 einer Einladung an die Harvard-Universität zu folgen. In den dort geplanten Poetik-Vorlesungen wollte er seine Ideen von Literatur im ausgehenden 20. Jahrhundert vorstellen: 1 Leichtigkeit, 2 Schnelligkeit, 3 Genauigkeit, 4 Anschaulichkeit, 5 Vielschichtigkeit. Fünf der Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Harvard-Vorlesungen (Lezioni americane: sei proposte per il prossimo millennio) waren fertig gestellt, als Italo Calvino am 19. September 1985 starb. Die sechste Vorlesung sollte den Titel „6 Consistency“ tragen. Diese Eigenschaften charakterisieren auch am besten die literarischen und essayistischen Werke des Schriftstellers.

Fast alle seine Werke sind in einer deutschen Ausgabe leicht verfügbar und in der Badischen Landesbibliothek ausleihbar. Auch ein Album Calvino, reich an Fotografien, Zeugnisse, Briefe ist erschienen und verspricht unveröffentlichte Texte und bislang unbekannte Materialien. Anlässlich seines 100. Geburtstags veranstalten die Deutsch-Italienische-Gesellschaft e.V. und die Badische Landesbibliothek zum bundesweiten Lesemarathon der Vereinigung Deutsch-Italienischer Kultur-Gesellschaften e.V. eine Lesung mit dem Teatralia Europa von Italo Calvinos Werken, um die Magie der Moderne mit Text und Musik für einen Abend wieder aufleben zu lassen.

Italo Calvino
Badische Landesbibliothek

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