Inspiration durch Sammelbilder (Text I): Text ohne Titel

Die Mitglieder der Schreibgruppe KITeratur haben sich für ihre hier veröffentlichten Texte von den in Ausstellung Wissen in Bildern – Die bunte Welt der Sammelalben ausgestellten Sammelalben inspirieren lassen.
Kerstin Ernst, 20.5.2025
DOI: https://doi.org/10.58019/XTH4-6468
Bereits im Februar – noch vor der Eröffnung der Ausstellung Wissen in Bildern – Die bunte Welt der Sammelalben – hatten die Teilnehmenden des Schreibworkshops „Bild zu Text“ der Kreativschreibgruppe KITeratur die Gelegenheit, in einer Auswahl historischer Sammelalben aus der Ausstellung zu stöbern. Unter der Leitung von Werbetexter und Autor Julius Link entstanden dabei fünf literarische Texte, die sich auf ganz eigene Weise von den vielfältigen Bildwelten inspirieren ließen. Diese Texte veröffentlichen wir nun nach und nach im BLBlog.
Im Mai präsentieren wir den Beitrag von Kerstin Ernst. Ihre literarische Auseinandersetzung geht zurück auf Honoré Daumiers Werk Das Drama, abgebildet im Sammelalbum Moderne Malerei: Vom Impressionismus bis zur Moderne.
„Zu Hilfe!“, schrie die junge Dame im weißen Nachthemd auf der Bühne. Sie verkörperte die Geliebte des Grafen. Das Gesicht vor Schreck verzerrt, die Hände über den Kopf gerissen, stürmte sie hinter die Kulissen.
Honoré schreckte aus seinem Schlummer und regte sich auf seinem Sitz. Vereinzelt sprangen Leute aus dem Publikum auf, um einen besseren Blick auf das Spektakel zu erhaschen. War das etwa Teil des Stücks? Einige Besucher hatten die Augen vor Entsetzen geweitet und hielten den Atem an. Neugierig beugte sich Honoré vor und kniff die Augenbrauen skeptisch zusammen. Von seinem Platz in der letzten Reihe des Theatersaals hatte er nicht die beste Sicht auf das, was vorne passierte.
Die ältere Dame, die links neben ihm saß, packte ihn plötzlich am Arm und schnappte nach Luft: „Das darf doch nicht wahr sein! Ist er etwa …?“, flüsterte sie fassungslos, ehe sie bemerkte, dass sie den Arm eines fremden Mannes gepackt hatte.
Der Graf, beziehungsweise Pierre, Honorés Freund und Hauptdarsteller im Stück Der Comte von Reims, beugte sich gerade über einen dunklen Schemen auf dem Boden – ein bewegungsloser Körper? Honoré konnte noch immer nicht genau sehen, was dort vor sich ging. Doch es schien so, als würde sich langsam eine dunkle Flüssigkeit von dem Schatten auf den Holzdielen der Bühne ausbreiten. Er kratzte sich den inzwischen grau gewordenen Schnauzbart – war die Flüssigkeit etwa…?
Ehe Honoré richtig realisieren konnte, was geschehen war, brach just in diesem Moment auf der Bühne das Chaos los: Pierre trat an den Bühnenrand, blickte hoch zur Empore, wo normalerweise der Regisseur Gustave saß. „Gustave, es ist Jean … Jean ist tot!“, rief er entsetzt nach oben. „Man hat ihn erdolcht!“
Mit einem Schlag war Honoré wieder hellwach. Blut! Das dort vorne war Blut! Das war sein Stichwort! Er sprang von seinem Sitz auf. „Einen Arzt! Holt einen Arzt, schnell! Und ruft meine Kollegen vom Commissariat! Einen Gendarmen habe ich heute vorm Gebäude abgestellt!“, sagte der Commissaire im Laufen nach vorn.
Während ein Teil der Zuschauer immer noch wie gelähmt den toten Körper auf der Bühne anstarrte, drehten sich einige aus dem Publikum nun interessiert zu ihm um. Der berüchtigte Commissaire Honoré Lindon, dem kein Fall zu kompliziert war. „Schließt die Türen, keiner verlässt mehr den Saal!“, blaffte Honoré über die Schulter. Gelang ihm nun endlich der Coup gegen den Trumpfmörder? Seit drei Jahren war er auf der Jagd nach dem Phantom, das durch Lille zog und Spielern den Garaus machte.
Er erkannte nun sofort, wer da vorne lag. Es war wirklich Jean. Der Souffleur, der sich mit ihm und seinem Freund Pierre jede Woche zum Skatspielen traf. Nur vor zwei Wochen war Honoré nicht dabei. Da lag er mit einer heftigen Grippe im Bett.
Das Gesicht von Jean war aschfahl, seine Augen geweitet. Der Kopf war in einem ungesunden Winkel am Nacken verdreht. Doch es war nicht der Sturz von der Bühnendecke und damit der harte Aufschlag auf den Boden, der ihn umgebracht hatte. Jemand musste ihn auf die Stahlträger für die Bühnenbeleuchtung gelockt haben, ihn hinterhältig abgestochen und dann dort liegengelassen haben.
Und es war genauso gekommen, wie er es bereits geahnt hatte. In der Brusttasche des Jacketts vom toten Jean steckte nämlich das Erkennungszeichen – die Karte Herz Ass. Der Trumpfmörder hatte zugeschlagen.
Honoré freute sich insgeheim schon über das verdatterte Gesicht des Präfekten, wenn er den Einsatzbericht abgab. Seine scharfe Spürnase und sein todsicheres Bauchgefühl hatten den Kommissar noch nie getäuscht. Er richtete sich auf und drehte sich langsam um, sodass er in den spärlich beleuchteten Theatersaal blicken konnte.
„Sie fragen sich womöglich, was das soll. Wieso ich sie nun hier alle im Saal festhalte? Wo doch offensichtlich ist, dass das Theaterspiel hier und heute ein Ende hat.“, wandte sich Honoré mit fester Stimme an die Zuschauer. Einige empörte Männerstimmen riefen ihm „In der Tat, was soll das?!“ und „Lassen Sie uns gehen! Wir haben nichts getan!“ entgegen.
„Ich sage Ihnen, dass ich hier heute im Publikum saß, war nicht ohne Grund. Ich habe gewartet. Mesdames et Messieurs, der heutige Tag wird als der Tag in den Zeitungen stehen, an dem Commissaire Honoré Lindon den Trumpfmörder auf frischer Tat ertappt und gefasst hat.“, triumphierte er.
„Und deswegen müssen wir hier sitzenbleiben und einem verbitterten Inspektor kurz vor der Pension beim Schwafeln zuhören? Anstatt er den armen Mann vor dem Tod bewahrt?“ – durch die Zuschauerreihen ertönte zustimmendes Geraune.
Honoré schüttelte den Kopf. Wie einfältig die Leute doch waren … „Ich hätte Jean nicht retten können. Er hat sich selbst dazu entschieden, diesen Pfad einzuschlagen. Er hatte die Wahl, doch am Ende war es seine eigene Unaufmerksamkeit, die ihn das Leben kostete“, begann der erfahrene Kommissar zu berichten. Jean wollte nicht auf ihn hören.
An dem Abend vor zwei Wochen, als er krank das Bett hütete, trafen sich seine Skat-Kumpels ohne ihn zum Kartenspiel. Für adäquaten Ersatz hatten seine Freunde gesorgt – Gustave, der Regisseur seines aktuellen Stücks, war ebenfalls ein leidenschaftlicher Zocker und gesellte sich zu Pierre und Jean.
Bei ihren Skatrunden ging es immer ums Geld – zwar mit kleinen Beträgen, niemals mehr als drei Francs – doch an dem Abend war alles anders. Dieses Mal sollte es ums Eingemachte gehen: Von seinem Freund wusste Honoré, dass Gustave ein Spielproblem hatte und aufgrund dessen nahezu immer blank war. Wie sich herausstellte, bekam er von seiner Frau nur einen bestimmten Geldbetrag zur Verfügung gestellt. Und da er mit diesem Geld nicht umgehen konnte, hatte Gustave an diesem Abend nach der vierten Runde Bier nichts mehr für seinen Spieleinsatz übrig. Also setzte er im nicht mehr ganz nüchternen Zustand seine Frau Claire in den Pott.
Gustave hatte natürlich nicht mit Jeans verdammter Glückssträhne gerechnet. Innerhalb weniger Spielzüge hatte dieser nämlich die Partie für sich gewonnen und somit streng genommen Gustaves Frau Claire gewonnen. Jean war zu Schulzeiten heftig in sie verliebt gewesen. Doch sie hatte damals nur Augen für ihren Gustave. Seitdem hat sich jedoch einiges verändert. Gustaves Spielsucht warf einen dunklen Schatten auf seine Ehe mit Claire und sie war zunehmend unzufrieden mit ihrem unfähigen Gatten.
In der letzten Woche hatte Jean an ihrem Skatabend noch damit geprahlt und groß angekündigt, dass sich sein Leben als ewiger Junggeselle nun endgültig erledigt habe. Innerlich lachte Honoré auf: „Zu früh gefreut“, dachte er.
„Verzeihen Sie junger Mann, wenn ich Sie unterbreche“, schnarrte die ältere Dame, die nun ganz vorne im Publikum im Mittelgang stand. Honoré kannte ihr Gesicht … War das nicht die, die ihn eben noch vor Schreck am Arm gepackt hatte? „Aber was hat denn die Tatsache, dass der Regisseur dieses Stücks offenbar nicht mit Geld und seiner Frau vernünftig umgehen kann, mit dem toten Souffleur hier zu tun?“
„Nun, vielleicht sagen Sie mir, was Jeans Tod damit zu tun hat. Sie sollten doch darüber bestens Bescheid wissen, oder Claire?“, griff Honoré die ältere Dame geradeheraus an. „Schließlich wissen Sie ganz genau, was für Sie auf dem Spiel steht, nicht?“ Triumphierend blickte er ins Publikum.
„Oder soll ich Sie nicht besser als Trumpfmörder bezeichnen?“, sagte Honoré und schaute mit hochgezogenen Brauen in die grüngrauen Augen von Claire. Die versteckte sich dort vorne unter der Verkleidung einer alten, gut betuchten Dame. Vereinzelt schnappten ein paar Zuschauer nach Luft. „Das ist doch nicht möglich! Woher wusste er…?“, raunten einige.
Claire verzog keine Miene, schnaubte verächtlich und sagte nur: „Nun hör sich einer diesen Schwachsinn an! Ich glaube, langsam geht mit Ihnen die Fantasie durch, Commissaire! Ich bin doch bloß eine arme alte Frau! Sie saßen doch eben noch neben mir!“
Sie bluffte. Honoré wusste genau, wie gut der Trumpfmörder untertauchen konnte. Nicht selten berichteten die Angestellten der Spelunken, in denen der Trumpfmörder seinen Opfern auflauerte, davon, dass sich kurz vor dem Tatzeitpunkt eine noble Dame – mal jünger, mal älter – mit grüngrauen Augen und einem ausgeprägten Pariser Akzent an der Bar aufhielt. Die Beschreibung, die genau zu der älteren Dame passte und zu Claire.
„Madame, ersparen Sie mir die Mühe, die Sache hier noch unnötig in die Länge zu ziehen“, sagte Honoré. „Wir haben eindeutige Beweise und einen Zeugen dafür, dass Sie die Person sind, die seit drei Jahren durch Lille geistert und wahllos spielsüchtige Männer tötet, um sie um ihren Gewinn zu bringen. Leugnen ist zwecklos.“
Es war letzte Woche gewesen, als Honoré nach dem wöchentlichen Skat-Treffen aus seiner Stammkneipe ging. Dort fiel ihm die traurige Gestalt Gustave an der Theke auf, als er seine Rechnung bezahlen wollte. Der Regisseur hatte ihn direkt angesprochen: „Sie sind doch der berühmte Commissaire, oder? Sind Sie nicht seit Jahren auf der Suche nach diesem … diesem Trumpfmörder?“
„Ja.“
„Wie viel Geld Belohnung zahlen sie noch Mal dafür, den Mistkerl zu fassen?“, hatte Gustave gefragt und gehickst.
„10.000 Francs.“, hatte Honoré erwidert.
Gustaves Augen hatten sich erhellt, ehe er sagte: „Ich glaube, ich hätte da ein paar Informationen für Sie. Kommen wir ins Geschäft?“
Damit war das Interesse des Commissaires geweckt und er setzte sich zu Gustave an die Bar. Er glaubte zwar nicht, dass ein mittelloser Regisseur ihm wesentliche Informationen zu seiner erfolglosen Jagd nach dem Phantom des Trumpfmörders liefern könne. Doch der Ermittler klammerte sich dennoch an jede Information, die er in die Finger bekommen konnte.
Nur, dass er mit der Geschichte, die ihm der spielsüchtige Gustave auftischte, nie im Leben gerechnet hatte. Denn offenbar hatte nicht nur Claire genug von ihrem Mann. Auch Gustave wollte sich endlich von dem Pantoffel seiner Gattin losreißen. Denn die schien alles andere als unschuldig zu sein. Sie hegte einen Groll gegen jede Art glücksspielenden Mann zu haben und zog in ihrem Rachefeldzug durch die Spielhallen der Stadt.
Im Laufe des restlichen Abends schüttete Gustave dem Commissaire sein Herz aus. Er erzählte davon, wie er seiner Frau Claire den Fehler gestanden hatte. Nämlich, dass er seine Frau beim Skat verhökert hatte. Daraufhin war Claire derart ausgerastet und drohte ihm mit dem Tod. Jedoch erst nachdem sie Jean erledigt habe. Genauso, wie sie es bereits mit den anderen Zockern getan habe. „Denn ich bin der Trumpfmörder – wer mich will, muss erst einmal mich in meinem eigenen Spiel besiegen!“, hatte sie gesagt.
Als er an dem Abend vor einer Woche den Commissaire in der Kneipe erblickte, war er so verzweifelt, dass er keinen anderen Ausweg sah, als seine Frau Claire zu verraten. Er wollte nur noch eines: Seine Schulden loswerden und neu anfangen.
„Und deswegen verhafte ich Sie Claire Périgeau wegen Mordes an 15 unschuldigen Männern!“, schloss Honoré sein Plädoyer und der junge Polizist, der bereits während seiner Erläuterungen in den Saal getreten war, legte der finster dreinblickenden Claire Handschellen an.
„Das wirst du mir büßen!“, zischte sie mit einem Blick auf die Empore, in der normalerweise der Regisseur saß. Doch Gustave war schon längst fort. Auf dem Weg an einen Ort, an dem er nie wieder sein Glück beim Spiel versuchen musste.

Cover des Sammelalbums Moderne Malerei: Vom Impressionismus bis zur Moderne, Quelle: BLB.
Weitere Informationen
Weitere Informationen zu den Sammelalben im Bereich „Kunst – alte und neue Meister“ finden Sie auf der Ausstellungsseite.
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