Kriegsalltag und Besatzungsrealität – der Pfarrer von St. Stephan berichtet

Das Kriegsende 1945 hatte viele Gesichter – hier zu sehen die Anklagebank des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, November 1945, Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, © Public Domain.
Ludger Syré, 8.5.2025
DOI: https://doi.org/10.58019/1HR9-VN85
Anlässlich der Veranstaltung „Kriegsende 1945 – Deutschland und der Umgang mit der Vergangenheit“ erscheint im BLBlog eine Artikelserie zu lokalen und regionalen Ereignissen rund um den 8. Mai 1945.
Die Badische Landesbibliothek und die katholische Stadtkirche St. Stephan lagen bis zum Zweiten Weltkrieg nur wenige Schritte auseinander; heute liegen sie sich unmittelbar gegenüber. Wie erlebte der Pfarrer von St. Stephan das Ende des Krieges, was bewegte ihn zwischen dem Einmarsch der Alliierten und dem Wechsel der Besatzungsmacht einige Wochen später? Die nachfolgenden Passagen werfen ein Licht auf das Geschehen, aber auch auf die Person und Denkweise des kirchlichen Chronisten.
Auf Betreiben von Erzbischof Conrad Gröber forderte am 17. Mai 1945 das Erzbischöfliche Ordinariat Freiburg per Erlass an die Dekanate von allen katholischen Pfarrämtern Berichte zur jüngsten Vergangenheit ein. Darin sollten die Ereignisse vor, während und nach der Besetzung durch die alliierten Truppen benannt und die Kriegsschäden an den kirchlichen Gebäuden aufgeführt werden. Die in der Regel zeitnah von den örtlichen Pfarrern verfassten Antworten fielen unterschiedlich lang und ausführlich aus. Sie vermitteln uns einen in der Regel zuverlässigen Einblick in die Vorgänge und Zustände in den einzelnen Gemeinden während der letzten Phase des Krieges und in den ersten Monaten der Besatzungszeit. Als zeitgeschichtlich bedeutsame Quelle werden die Berichte seit einigen Jahren in der Bearbeitung von Jürgen Brüstle, Annemarie Ohler, Norbert Ohler und Christoph Schmider dekanatsweise im Freiburger Diözesan-Archiv veröffentlicht – alle Volltexte der Zeitschrift bis einschließlich Jahrgang 2018 finden sich in RegionaliaOpen.
Auf dem Gebiet der Karlsruher Gesamtkirchengemeinde lebten am Vorabend des Krieges etwa gleich viele Katholiken wie Protestanten, nämlich jeweils rund 72.000. Zum Sprengel der Innenstadtpfarrei St. Stephan gehörten 11.216 Katholiken. Deren Pfarrer war Dr. Albert Rüde (1884–1959), der 1937 von der Freiburger Pfarrei St. Urban nach Karlsruhe gewechselt und im gleichen Jahr Stadtdekan geworden war. Er beantwortete die Anfrage seines Erzbischofs zur Situation der Stadtpfarrei am 7. August 1945, wobei er sich an das vorgegebene Frageraster hielt. Einen zweiten Bericht, in dem er auf die Kriegsereignisse in seinem Dekanat einging, verfasste er am Tag darauf.
Eingangs zählte er die drei Großangriffe auf Karlsruhe auf, durch die weite Teile der Karlsruher Innenstadt in Schutt und Asche gelegt wurden. Der Bombenangriff am 3. September 1942, dem bekanntlich auch die Badische Landesbibliothek im Sammlungsgebäude am Friedrichsplatz zum Opfer fiel, traf das nach wie vor als Krankenhaus betriebene Alte Vincentiushaus am Karlstor. Noch verheerender wirkten sich der Fliegerangriff am 27. September 1944, bei dem fast eine halbe Million Brandbomben vor allem auf die Innenstadt und die Weststadt fielen, und der Sprengbombenangriff am 4. Dezember 1944 aus, der zum schlimmsten während der gesamten Kriegszeit wurde. An diesen beiden Tagen sind die Kirche St. Stephan und das Pfarrhaus vollständig zerstört worden; das Schloss und der Schlossbezirk mit den Bauten der Ministerien brannten ebenso aus wie die anderen Gebäude rund um den Friedrichsplatz und nahezu alle Häuser in der Erbprinzenstraße; mehrere kirchliche Gebäude wurden stark oder sogar komplett zerstört.

Ruine von St. Stephan (links) und dem Ständehaus (rechts) nach der Zerstörung, Quelle: Stadtwiki Karlsruhe
Weitere Schäden richteten, wie Pfarrer Rüde mitteilte, Granaten an, beispielsweise jene 21-cm-Granate, die am 22./23. März 1945 in das Sitzungszimmer des Alten Vincentiushauses eingeschlagen sei: „4 Meter entfernt nebenan lag ich in meinem Schlafzimmer“, schreibt er, und fährt fort: „An Toten hatten wir Gott sei Dank verhältnismäßig wenig zu beklagen, im Ganzen etwa 35. In den zerstörten kirchlichen Gebäuden kam niemand ums Leben.“ Unklar ist, wen der Dekan an dieser Stelle mit „wir“ meinte; denn insgesamt gab es während des Krieges in Karlsruhe etwa 100 Luftangriffe, bei denen 1.754 Einwohner starben und etwa 3.500 verwundet wurden.

Auch das Karlsruhe Schloss wurde – wie viele andere Teile der Stadt – fast vollständig zerstört. Quelle: Stadtwiki Karlsruhe
Alsdann schilderte Rüde die Ereignisse während der Besetzung der Stadt durch die französischen Truppen „am Mittwoch in der Osterwoche, am 4. April zwischen 8 und 12 Uhr.“
Er selbst erlebte diese Stunden im Alten Vincentiushaus:
„Sämtliche Insassen waren im Keller, Ärzte und Geistliche waren im Gang. Etwa um 11 Uhr drangen 7-8 Marokkaner in das Haus ein, gingen aber bald wieder; um 12 Uhr hatten wir bereits 10 Offiziere zu Tisch. Im Ernste wurde auch die Innenstadt nicht verteidigt, wiewohl überall Barrikaden errichtet waren. Es wurde geschossen, gab dabei auch eine Anzahl Tote, die z. T. noch nach 2 Tagen auf der Straße lagen.“
Die Funktionäre der NSDAP waren zu diesem Zeitpunkt bereits „fast restlos“ aus der Stadt verschwunden. Zu diesen zählte auch der bisherige Oberbürgermeister Oskar Hüssy, der zuvor noch die Geschäftsführung an den Verwaltungsdirektor Josef Heinrich übergeben hatte, der „dann auch kommissarischer Bürgermeister wurde“.
Unmittelbar nach dem Einmarsch der Franzosen habe die Plünderung der Lebensmittelgeschäfte und die Durchsuchung der Häuser nach Waffen und Munition eingesetzt. Besonders getroffen hat dies offenbar die Parteigänger des Nationalsozialismus, denn, so notierte Rüde in seinem Bericht, wenn die Wohnungseigentümer in dem Moment nicht zuhause gewesen seien und wenn man in den Räumen Hitlerbilder, Fahnen oder Uniformen gefunden habe, sei „meist alles kurz und klein geschlagen und die Wohnung in einen unbeschreiblichen Zustand versetzt“ worden.
„Wir hatten den Eindruck, daß die Stadt Karlsruhe, die als erste große Stadt rechts des Rheins erobert wurde, das Opfer des Hass- und Rachegedankens geworden ist, der sich seit Jahren angesammelt hatte und nun sich in erschreckender Weise auf unsere Stadt entlud. In den ersten 8 Tagen verging kein Tag und keine Nacht, wo nicht irgendwo ein Gebäude in Brand gesteckt wurde.“
Ausführungen wie diese lassen erkennen, wie wenig Pfarrer Albert Rüde bereit war, die Taten der deutschen Seite, also die Zerstörungen der Wehrmacht in Frankreich, in seine Bewertung einfließen zu lassen.
Anders zu betrachten war freilich die Gewalttätigkeit gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung und hier insbesondere die sexuelle Gewalt gegen Frauen.
„Erschütternd waren immer wieder die Meldungen über Vergewaltigungen und Bedrohungen der Frauen und Mädchen. […] Die Zahl der Fälle läßt sich schwer übersehen, aber Ärzte teilten uns mit, daß es viele Hunderte waren.“
Die Angriffe auf Frauen ereigneten sich nicht allein im Bezirk der Pfarrei St. Stephan, sondern – wie den Kriegsberichten von Rüdes Karlsruher Kollegen entnommen werden kann – auch in den übrigen Pfarreien der Stadt in solch einem Ausmaß, dass der Stadtdekan im Namen der Karlsruher katholischen Geistlichkeit am 16. April 1945 einen Beschwerdebrief an den zuständigen Kommandanten der französischen Militärregierung schickte. Darin bezog er sich auf die Mitteilungen seiner Kollegen,
„wonach kath. Mädchen und Frauen belästigt, verfolgt und vergewaltigt werden; und zwar handelt es sich um weibliche Personen jeden Alters, von Minderjährigen angefangen bis zu denen von 50 und 60 Jahren. Immer wieder kommen Frauen zu uns und bitten uns flehentlich und hilferufend um unseren Schutz und unsere Unterstützung, und berichten uns, dass Personen geschlagen und misshandelt werden, dass Eltern mit Bajonett und Revolver bedroht werden. Des Nachts dringen Soldaten in die Häuser ein und durchsuchen die Wohnungen nach Mädchen, um sie zu missbrauchen. Mütter und Töchter leben unter ständigen unerhörten seelischen Qualen und Ängsten.“
In seinem Schreiben appellierte Rüde unter anderem an die „Ritterlichkeit der französischen Nation“. Er räumte ein, dass in einzelnen Fällen Offiziere energisch eingeschritten seien und er versäumte nicht darauf hinzuweisen, dass dem Vernehmen nach in der benachbarten Stadt Heidelberg „die amerikanische Besatzung in allen diesen Dingen strenge Maßnahmen ergriffen hat.“ Gemeinsam mit einem Rektor, der die Beschwerde in französischer Sprache vortrug, übergab er der im Gebäude der ehemaligen Privatbank Veith Homburger residierenden Militärregierung seine Bittschrift. Die Antwort, die ihm der französische Offizier gegeben haben soll, fasste er wie folgt zusammen:
„Die Deutschen haben sich in Frankreich wie Barbaren benommen, sie haben meine eigene Frau erwürgt; es wäre an der Zeit, daß die Deutschen endlich zur Einsicht kämen, und daß sie ihr mea culpa sprechen. Angesichts der vielen Vorkommnisse in Frankreich hätten wir keinen Grund, uns zu beklagen.“
Auf der anderen Seite – auch diese Beobachtung ließ Rüde in seinem Kriegsbericht an das Erzbistum nicht unerwähnt – habe sich die „traurige Tatsache“ gezeigt,
„daß Mädchen sich würdelos mit den Franzosen einließen und daß manche Familien Franzosen aufnahmen, sich anbiederten und auf diese Weise glaubten, eher gesichert zu sein.“
Damit benannte er einen Befund, der sich in ganz ähnlicher Weise in den Kriegsberichten zahlreicher anderer badischer Pfarrer finden lässt.
Als Gemeindepfarrer ging es Albert Rüde im August 1945 natürlich auch um die Wiederaufnahme des kirchlichen Lebens in St. Stephan und den übrigen städtischen Pfarrgemeinden. Sein Dekanatsbericht erwähnt die Notwendigkeit, für die Geistlichen und Ordensschwestern Passierscheine zu erhalten, beispielsweise um Kranke zu betreuen. Neben den Genehmigungen zur Fortsetzung des Kinderreligionsunterrichts, zum Druck der Gottesdienstpläne und zur Herausgabe eines Sonntagsblatts bemühte er sich um die Erlaubnis zur Abhaltung der Fronleichnamsprozession, die erst nach mehrfacher Intervention erteilt wurde. Sein Ringen mit den französischen Stellen fasste er dahingehend zusammen,
„daß bei den Maßnahmen der Franzosen die klare Linie und die einheitliche Führung fehlten.“
Die Situation entspannte sich ein wenig, als am 8. Juli 1945 die Besatzungsmacht wechselte; mit der amerikanischen Regierung, schreibt Rüde einen Monat später, „hatten wir bis jetzt nach der religiösen Seite keine besonderen Schwierigkeiten.“ Allerdings setzte nun das Tauziehen um das teilweise zerstörte Kolpinghaus ein, das von den Amerikanern beschlagnahmt wurde, um die bislang im Städtischen Krankenhaus versorgten amerikanischen Patienten hier unterzubringen.
Eine weitere Schwierigkeit, auf die der Dekan einging, stellte die Reparatur der Kirchen dar. Das betraf wohl zu diesem Zeitpunkt nicht die erheblich zerstörte Stephanskirche, sondern jene Pfarrkirchen, deren Dächer sich mit einer überschaubaren Menge an Bauholz wieder herstellen ließen, beispielsweise St. Bonifaz in der Sophienstraße und St. Elisabeth in der Südendstraße, die damals beide zum Kirchenbezirk Karlsruhe-Mitte gehörten. Trotz vorliegender Genehmigungen seitens der französischen Militärregierung und trotz ausgearbeiteter Baupläne des erzbischöflichen Bauamtes waren entsprechende Wünsche in den ersten Monaten nach Kriegsende nicht realisierbar:
„Wir scheitern an der Beschaffung der Materialien, die einfach nicht vorhanden sind. […] Es fehlt an Handwerkern, es fehlt an Material, es fehlt an allem.“
So bedauerlich der Mangel an Holz zur Reparatur der Kirchendächer auch gewesen sein mag – die Menschen drückten wahrscheinlich eher Existenzfragen. Das war auch Dekan Albert Rüde bewusst, der von einer bitter harten Gesamtlage sprach:
„Die Bevölkerung leidet auch jetzt noch außerordentlich unter dem Mangel an Lebensmitteln; die Wohnungsnot ist riesengroß; gebaut wird so gut wie nichts, wenn man von den Arbeiten an behördlichen Gebäuden absieht, wo sich Franzosen befanden und jetzt die Amerikaner sind.“
In seinem Bericht begrüßte er hingegen die wieder hergestellte Sicherheit für die Karlsruher Bürger:
„Die Erleichterung durch die Amerikaner ist nicht wesentlich spürbar; bloß eines begrüßen wir dankbar, dass nicht mehr geplündert wird und die Russenplage aufhört und damit der Überfall auf harmlose Spaziergänger, Garten- und Feldarbeiter, denen sie ihre mühselig bebauten Gärten ausplünderten.“
Dass es sich bei den „Russen“ um nach Deutschland verschleppte Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene handelte, die nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur als Displaced Persons noch einige Zeit im Land verblieben, ließ er ebenso unerwähnt wie die Tatsache, dass sich an den Plünderungen auch die notleidende deutsche Bevölkerung beteiligte, weshalb die Alliierten für Zivilisten eine Ausgangssperre von 18 Uhr abends bis 9 Uhr morgens verhängt hatten.
Am Schluss seines Kriegsberichts ging Pfarrer Albert Rüde auf die politische Säuberung durch die Besatzungsmacht ein. Dass die Amerikaner seiner Meinung nach gegen die Parteileute viel „schärfer und rücksichtsloser“ als gegen die Plünderer vorgingen, scheint nicht seine ungeteilte Zustimmung gefunden zu haben. Offensichtlich fürchtete er die Folgen der Entnazifizierung für die Betroffenen und ihre Familien, wenn er schreibt:
„Der neue Fragebogen umfasst 131 Fragen, aufgrund dessen wohl noch viele aus Amt und Stellung entfernt werden. Die Auswirkung bei den Beamten, insbesondere bei den Lehrern droht katastrophal zu werden. Wir werden über kurz oder lang vor einer Notlage vieler Familien stehen, von der wir nicht wissen, wie wir sie meistern sollen.“
Die gravierenden Versorgungsprobleme betrafen im Sommer 1945 allerdings alle Einwohner der Stadt und machten die strenge Bewirtschaftung lebenswichtiger Güter erforderlich.
Literatur:
- Karlsruhe 1945. Unter Hakenkreuz, Trikolore und Sternenbanner. Im Auftrag der Stadt Karlsruhe verfaßt von Josef Werner. Karlsruhe: G. Braun 1985
- Heinz Schmitt: Karlsruhe ehemals, gestern und heute. Eine Stadt im Wandel der letzten 60 Jahre. Stuttgart: Steinkopf 1980