Inspiration durch Sammelbilder (Text IV): Space-Turnen

Die Mitglieder der Schreibgruppe KITeratur haben sich für ihre hier veröffentlichten Texte von den in der Ausstellung Wissen in Bildern – Die bunte Welt der Sammelalben ausgestellten Sammelalben inspirieren lassen.
Pia Gawlik-Rau, 27.8.2025
DOI: https://doi.org/10.58019/RG7J-KS76
Bereits im Februar – noch vor der Eröffnung der Ausstellung Wissen in Bildern – Die bunte Welt der Sammelalben – hatten die Teilnehmenden des Schreibworkshops „Bild zu Text“ der Kreativschreibgruppe KITeratur die Gelegenheit, in einer Auswahl historischer Sammelalben aus der Ausstellung zu stöbern. Unter der Leitung von Werbetexter und Autor Julius Link entstanden dabei fünf literarische Texte, die sich auf ganz eigene Weise von den vielfältigen Bildwelten inspirieren ließen. Diese Texte veröffentlichen wir nun nach und nach im BLBlog.
Im September präsentieren wir den Beitrag von Pia Gawlik-Rau. Ihre literarische Auseinandersetzung geht zurück auf ein Foto mit dem Titel Günther Lyhs beim Abgang vom Reck zu finden im Sammelalbum Olympischer Sport von Erich Oberrascher.
Weitere Informationen zu den Sammelalben im Bereich Sport – Olympiaden und Meisterschaften finden Sie auf der Ausstellungsseite.

Cover des Sammelalbums Günther Lyhs beim Abgang vom Reck, Quelle: BLB.
Space-Turnen
Zunächst kursierten selbstgedrehte Videos in den sozialen Medien. Fake News. Da waren sich alle sicher. Dann kamen die ersten Berichterstattungen auf den privaten TV-Kanälen. Immer noch die selbstgedrehten Videos. Fake News. Da waren sich alle sicher.
Am nächsten Tag lauteten die Schlagzeilen der Tageszeitungen: „Turnen nach Jähn“, „Space-Turn“ oder so ähnlich. Die Radiostationen rund um den Globus meldeten Sichtungen an allen möglichen und unmöglichen Orten. Millionen Menschen standen auf den Straßen, auf den Wiesen und Feldern vor den Städten und schützen mit den Händen den Blick in den Himmel.
Kinder stürmten in die Turnhallen und warteten geduldig in doppelreihigen Schlangen, die sich schon mehrfach um die Gebäude herumgewickelt hatten. Alle verfügbaren Kameraleute und Sendestationen waren ausgeflogen, um Augenzeugen, Experten, Ärzte und Lehrer zu ihrer Einschätzung der Lage zu befragen. Das ganze Land stand Kopf. Was heißt hier Land, der ganze Kontinent, nein, die ganze Welt.
Im ersten Programm der öffentlich-rechtlichen Sender wurde gerade ein weißhaariger, kleiner Hutzelmann mit Rauschebart interviewt – ein typischer Physiker, wie aus dem Bilderbuch: „Das widerspricht doch den Newtonschen Gesetzen“, sagte der Reporter, um sein physikalisches Grundwissen zur Schau zu stellen.
„Eigentlich handelt es sich um ein Axiom. Dieses beschreibt die Beobachtungen, die wir bisher gemacht haben. Aber bis jetzt gab es noch keinen Beweis dafür. Wir sind hier Zeugen geworden, wie die seit fast 350 Jahren geltenden Gesetze widerlegt wurden. Ist Ihnen die historische Bedeutung dieses Ereignisses bewusst?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Die ganze Physik muss neu geschrieben werden.“
„Wir haben einem historisch einzigartigen Erlebnis beigewohnt“, wurde der Physiker überblendet. Ein großer, hagerer Mann mit schütterem Haar und dichtem, dunklem Vollbart sprach in sein Mikrofon. Seine Wollsocken in Birkenstockschuhen enttarnten ihn als Biologen.
„Wir werden die Biologie der Menschen vollständig umschreiben müssen.“
Eine kleiner Junge mit Micky Mouse T-Shirt, gestreiften Shorts und einer Eiswaffel in der Hand erschien auf dem Bildschirm.
„Wie hast du das Ganze denn erlebt?“, fragte ihn die Reporterin.
„Naja, wie ein Flugzeug. Erst hat er Anlauf genommen. Dann hat er sich gaaaaaanz oft um die Reckstange gedreht. Als er genug Schwung hatte, hat er wie eine Rakete gezündet, die Stange losgelassen und die Arme in den Himmel gestreckt. Durch das offene Hallendach ist er einfach ins Weltall davongeflogen... Das möchte ich auch mal so machen!“ Verträumt lächelte der Junge vor sich hin und schaute sehnsuchtsvoll in den Himmel.
Weitere Informationen
Weitere Informationen zu den Sammelalben im Bereich Sport – Olympiaden und Meisterschaften finden Sie auf der Ausstellungsseite.
KITeratur ist eine offene Schreibgruppe, die sich dem kreativen Ausdruck in all seinen Formen widmet. Willkommen sind alle, die Freude am Schreiben haben – unabhängig von Vorkenntnissen oder Erfahrung. Der Kooperationspartner lädt an jedem vierten Samstag im Monat zum gemeinsamen Arbeiten an Texten ein.